Wenn Sie aus Ihrem Notizbuch ein Mysterium machen möchten, dann machen Sie es doch wie Leonardo da Vinci. Der schrieb seine Notizen gerne mal in Spiegelschrift und beschäftigt damit bis heute eine Reihe von Verschwörungstheoretikern. Dabei war er schlicht Linkshänder und konnte – so die wahrscheinlichste Variante – von rechts nach links einfach schneller schreiben. Auch wenn Ihnen das wenig praktikabel erscheint, so macht es das Notizbuch doch sehr sympathisch: ob von oben nach unten, von links nach schräg – mit dem Notizbuch kann man’s machen.
Was für ein Comeback
Irgendwann tauchte das Notizbuch wieder auf. Jahrelang verschmäht hatte es sich in die düstersten Ecken der Shopping-Center – die Esoterik-Läden – zurückgezogen, wo es zwischen magischen Steinen und Runenanhängern als Chinakladde hauste.
Hier – zwischen den ganzen anderen Relikten vergangener Zeiten und untergegangener Kulturen – schien es lange gut aufgehoben. Notizbuch? Papier? Da glaub ich nicht dran. Schließlich war das die Zeit, in der die kleinen elektronischen Helfer zwar noch nicht ihren Siegeszug angetreten hatten, aber die Versprechungen waren groß, schon Morgen konnte es soweit sein – und wer bitte kauft sich da noch ein Notizbuch? Zeitgemäß hingegen erschien vielen der Organizer, Time-Planer, das Filofax, das mit Kalendarium und mehr oder weniger nützlichen Kategorien (wann haben Sie das letzte Mal das Morsealphabet oder die Flagge von Mauritius nachgeschlagen?) bereits das ordnende, organisierende des Handhelds vorwegzunehmen schien. Auch hier gab es 5 leere Seiten, aber die blieben auch leer. Denn 5 Seiten sind 5 Seiten und um die zu bekritzeln musste schon etwas ganz Besonderes passieren, was es dann aber meistens nicht tat. Man stelle sich vor, da blättert jemand durch und findet auf der „wichtige Notizen”-Seite den Vermerk: Sperrmüll anmelden – oh Gott, wie peinlich ist das denn. Also besser auf einem kleinen Zettel notieren. Was auch erklärt, weshalb Organizer immer in der Dicke einer Großdruckausgabe des alten Testaments erhältlich und mit Einstecktaschen und komplizierten Verschlussmechanismen versehen wurden: damit man die diversen, kleinen, zusätzlichen Notizzettel darin unterbringen kann.
Und dann kamen sie irgendwann wirklich. Die vielen elektronischen Alltags- und Joborganisationshilfen. Und mit ihnen die Top-Ten der üblichen technischen Probleme. Aber wo konnte man denn jetzt hier mal eben ganz schnell was notieren oder – in memoria Filofax – wenigstens die Notizen verstauen? Plötzlich, in der direkten Konfrontation mit dem Konkurrenten, punktete das Notizbuch durch lange Akkulaufzeiten, sichere Datenspeicherung und die Tatsache, dass man es nicht erst anschalten musste. Und selbst wenn so ein Notizbuch mal abstürzt, dann hebt man’s eben wieder auf.
Das kleine Schwarze
Wer sich heute den Anschein des Intellektuellen geben will, hat es nicht leicht. Die Insignien Selbstgedrehte, schwarzer Rollkragenpulli und dickrandige Brille sind nicht mehr zeitgemäß. Brille ist doof, ein Rolli macht ‘nen kurzen Hals und Rauchen ist eh ungesund. Das geht natürlich nicht, denn in erster Linie will man ja gut aussehen. Wenn hin und wieder etwas Geist aufblitzt, ist das natürlich schön. Aber permanent geistreich zu wirken oder gar zu sein, ist dann doch etwas anstrengend. Eine neue Insignie muss her, die ein für allemal klarstellt: Hallo, ich bin ein tiefgründiger Mensch! Ein Intellektuellenpass, der das selbst erklärte Denkertum symbolisiert. Am besten in schwarz. Denn das ist nicht nur traditionsgemäß, das kann man auch zu allem tragen.
Kein Problem. Man erfand ein kleines schwarzes Notizbuch und verpasste ihm eine große Historie (Sie wissen schon, das legendäre Buch, in das schon im Jahre soundso Sie wissen schon wer geschrieben hat). Was erhofft sich der Käufer dieses ach so geschichtsträchtigen Buches? Dass er jetzt so schreiben kann, wie der legendäre Vorbesitzer und die sorgsam aufgelisteten Telefonnummern seiner Disco-Bekanntschaften als moderne lyrische Ausdrucksform gefeiert werden? Oder dient der Stammbaum schlicht als clevere Profilierungsanekdote für Partys? Spätestens, wenn das Kultbuch so zum Mittelpunkt des Gesprächs wird, gilt: obacht! Schon die nächste Frage eines neugierigen Zeitgenossen könnte sein: Wer war das überhaupt und was hat der denn in dieses Notizbuch geschrieben? Dann wünscht sich, wer so gerne geistreich gewesen wäre, er könnte sich einfach unter einem langen schwarzen Rollkragen verstecken.
Angst vor dem weißen Blatt
Notizbücher machen aus Grübelnden Schreibende. Die Rede ist hier nicht von den pragmatischen Notierern, den Post-it-Fetischisten – die notieren, vermerken, bookmarken ohnehin. Die Rede ist von den Kreativen, den Autoren, den Geschichtensammlern. Die schützt das Notizbuch vor einer Krankheit, die alle Schreibenden irgendwann heimsucht: die Schreibblockade, die Angst vor dem weißen Blatt – die Ur-Angst des Schreibenden. Denn vor sich das unbefleckte, jungfräuliche Papier meint man, dass – wann, wenn nicht jetzt? – alles möglich ist. Einmal falsch angefangen ist das Blatt versaut, jedes durchgestrichene Wort, jede ins Leere laufende Argumentation ein Zeugnis der eigenen Unfähigkeit.
Abhilfe versprach der Computer – kann man doch hier alles ungeschehen (also ungeschrieben) machen. Ganz schön naiv. Denn Papier war wenigstens noch geduldig – die Effizienzmaschine Computer hingegen versäumt es keinen Moment, auf die rapide dahinschwindende (Lebens-) Zeit zu verweisen (für Masochisten: Die Uhrzeit finden Sie beim PC unten, beim MAC oben rechts). Damit wird das zunächst freundliche und auffordernde Blinken des Cursors auf weißem Grund zu einem leisten Ticken – running-out-of-time. Blanker Hohn auch die vom unterbeschäftigten PC angebotene Hilfefunktion in Gestalt einer hyperaktiven Büroklammer, die unbedingt beim Erstellen eines Briefes helfen möchte – auch und gerade dann, wenn man keinen schreibt.
Das Notizbuch hingegen ist dankbarerweise stumm – und klein. Da stimmen die Dimensionen: Mit einem kleinen weißen Blatt kann man mithalten und fühlt sich nicht, als wäre man beauftragt worden, mal eben die Decke der Sixtinischen Kapelle zu bemalen. Im Notizbuch fehlen nur ein paar Zeilen, schon muss man wieder blättern. So wird das weiße Blatt zum gewohnten Anblick – mit der Gewöhnung daran verschwindet die Angst davor. Und sowieso: schon der Name „Notizbuch“ befreit ja vom Perfektionsdruck. Denn was hier entsteht, ist ja schon per definitionem nur Notiz, ist vorläufig, unfertig. Und falls doch doch mal was besser ist, als man dachte: umso besser. Denn im Gegensatz zum Kapitel1.doc umgibt das Notizbuch die Aura des privaten und geheimen – und die verführt bekanntlich zum Lesen. Einfach unauffällig im Café liegen lassen, Visitenkarte beilegen. Dann dauert’s nicht mehr lang bis zum großen Durchbruch.